Evangelische Gustav-Adolf-Kirche zu Seckmauern
Die Seckmäurer Gustav-Adolf-Kirche verdankt sich dem segensreichen Wirken des Gustav-Adolf-Vereins und – was Protestanten befremdlich erscheinen mag – der Seckmäurer Marien-Erscheinung von 1859.
Das Gotteshaus ist zudem eines der Ersten auf dem Gebiet des nachmaligen Deutschen Reiches, das nach dem "Eisenacher Regulativ" von 1861 erbaut wurde. Die Kirche formuliert eine theologische Aussage und eine eindeutige kirchengeschichtliche Positionierung.
Ein Bericht von Roland Sattler/Seckmauern
3D Rundgang
Vorgeschichte
Soldaten der „Großen Armee“ Napoleons schleppen in unser Gebiet das sogenannte „Nervenfieber“ (wohl die Bauchtyphus) ein. An dieser Krankheit sterben zwischen alleine im Dezember 1813 so viele, wie sonst nur in einem Jahr. Der alte Friedhof bei der Kirche wird zu klein. Man kauft ein Gelände außerhalb des Dorfes und weiht es zum Friedhof. Die erste Beerdigung auf dem neuen Friedhof ist bereits im Februar 1814. Der alte Friedhof wird aufgelassen und im Laufe der Zeit als Holzlagerplatz genutzt. Im Dachgeschoß der Kirche werden Heu, Getreide und landwirtschaftliche Gerätschaften deponiert. Unter der Last bricht 1835 die Decke teilweise zusammen. Der damalige Pfarrer Weiß stellt in einem Bericht vom 19. September 1835 kurz und knapp fest:
1. Die Kirche ist zu klein; nur 1/3 der Gemeinde hat darin Platz.
2. Die Kirche ist feucht und ungesund.
3. Die Kirche ist baufällig!
Und er zieht daraus die einzig mögliche Konsequenz: Die Kirche müsse zumindest erweitert werden. Aber am besten wäre es, wenn eine größere Kirche an einem anderen Ort errichtet werden würde. Der Höchster Klosterfond, der die Baulast zu tragen hatte, wollte und konnte keinen Kirchenneubau finanzieren. Er steckte in finanziellen Schwierigkeiten. Schließlich bewilligte er einen Kirchenneubau, aber nur in gleicher Größe wie die alte Kirche.
In den 1840er Jahren waren die Pläne für den Kirchenbau weit gediehen. Die neue Kirche sollte außerhalb des Ortes (Richtung Lützel-Wiebelsbach; heute Lagerhalle der Firma Verst) gebaut werden. Der entsprechende Lageplan befindet sich heute im Staatsarchiv Darmstadt. Doch die finanziellen Mittel waren immer noch nicht vorhanden.
Gustav-Adolf-Werk
Am 6. November 1832 gedenkt man in Sachsen der Schlacht bei Breitenfeld und der Schlacht bei Lützen, in der König Gustav Adolf von Schweden tödlich verwundet wurde (Achtung: Die Schlacht bei Breitenfeld fand 1631 statt, die Schlacht bei Lützen 1632).
Noch am Tage der Gedenkfeier beschloss man, zu einer Sammlung für ein neues Denkmal aufzurufen. Auf dem errichteten Gedenkstein ist zu lesen: „Glaubensfreiheit für die Welt, rettete bei Breitenfeld, Gustav Adolf, Christ und Held.“
Dr. Großmann, Leipziger Pfarrer und Mitglied des dortigen Konsistoriums, hatte noch eine Idee. Neben dem eisernen Denkmal für den toten König sollte auch ein bleibendes Denkmal der brüderlichen Hilfe stehen. Hatte nicht Gustav Adolf den deutschen Protestantismus vor dem Untergang gerettet? Sollte man jetzt nicht Glaubensbrüder unterstützen, die sich in kirchlicher Not befinden und sonst gar zu den Katholiken „abgeworben“ werden könnten? Dr. Großmann hatte dabei einen ganz konkreten Fall vor Augen. Da gab es hart an der sächsischen Grenze das böhmische Dorf Fleißen (heute Tschechien). Seit Jahrhunderten gehörte man zur 2 Kilometer entfernten sächsischen Pfarrei in Brambach (heute Bad Brambach). Diese Verbindung wird nun plötzlich gekappt, und zwar von Wien; Böhmen gehörte ja zur Donaumonarchie. Den Fleißenern wurde bedeutet, dass sie sich selbst um Kirche und Schule, um Pfarrer und Lehrer zu kümmern hätten. In ihrer Not wandte sich die Gemeinde an das Konsistorium in Leipzig. Doch dort konnte man nichts machen. Der Einfluss endete an den Landesgrenzen. Aber ein Verein könnte Grenzen überspringen.
Die Idee wurde begeistert aufgenommen und so entstand die so genannte Gustav-Adolf-Stiftung. Sie hatte einen Geburtsfehler. Es durften nur die Zinsen vom Stammkapital für Unterstützungszwecke verwendet werden. Deshalb konnte man in den ersten Jahren nur zwischen 100 und 500 Taler jährlich für die Aufgaben des Vereins verwenden.
Der erste Hofprediger in Darmstadt, Dr. Karl Zimmermann, war ein sehr umtriebiger und begeisterungsfähiger Prediger. In einer französischen Zeitung las er, wie französische Katholiken ihren in der Zerstreuung lebenden Glaubensbrüdern zur Seite stehen. Und er fragte sich: Ist das bei uns nicht auch möglich? Am Reformationstag des Jahres 1841 richtete er einen flammenden Appell an die protestantische Welt: Gründet einen Verein zur Unterstützung notleidender Glaubensbrüder. Der Verein sollte nicht gegen die Katholiken gerichtet sein, denn wir sind alle Christen! „Schande über den, der bei seinen Wohlthaten nach dem Bekenntnis fragt.“ Jedoch sollte der Verein dazu beitragen, dass die Protestanten, egal ob reformiert oder lutherisch, in ihrer Unterstützungsarbeit zusammenkommen. Denn nicht Luther oder Zwingli sind unsere Meister, sondern Jesus Christus. „Es mag schön sein, Eins zu sein im Glauben, schöner ist´s, Eins zu sein in der Liebe“. Mancher konfessionelle Streit könnte in den Hintergrund treten, wenn man sich beim Zusammenarbeiten näher kennenlernen würde:
„Wie würde man immer mehr sich scheuen, da von Unglauben und Finsternis zu reden, wo doch des Glaubens Früchte und des Lichtes Werke reifen!“
Der Aufruf endete mit einem Zitat, das auf den Kirchenlehrer Augustin zurückgehen soll: „In zweifelhaften Dingen Freiheit, im Notwendigen Einheit und in Allem Liebe!“
Mit Dr. Großmann aus Leipzig setzt er sich bald in Verbindung und so entstand 1842 der Evangelische Verein der Gustav-Adolf-Stiftung. Bereits 1843 wurden mehr als 3500 Taler verausgabt und ein Jahr später, im Jahre 1844, konnte die erste Gustav-Adolf-Kirche im österreichischen Linz eingeweiht werden.
Der Aufruf von Dr. Karl Zimmermann hatte auch die Pfarrei Seckmauern erreicht und immerhin kamen bei einer Sammlung Ende 1842 etwas mehr als 10 Gulden zusammen, obwohl man ja selbst dringend Geld benötigte.
Im Jahre 1844 verließ Pfarrer Weiß Seckmauern. Er hatte sich für den Neubau eingesetzt, war aber am Höchster Klosterfond gescheitert. Nachfolger wurde der aus Neustadt stammende Friedrich Böhler, Sohn des Hofrates Böhler. Er besuchte vermutlich das Pädagogum in Darmstadt, eine hoch angesehene Schule, die vom Vater Karl Zimmermanns geleitet wurde. Und womöglich sind sich beide in Darmstadt begegnet. Dr. Zimmermann bezeichnete Pfarrer Böhler als seinen Jugendfreund und von dieser Freundschaft profitierten die Seckmäurer.
1845/46 richtete die Kirchengemeinde unter dem Vorsitz des Pfarrers ein Unterstützungsgesuch an den Gustav-Adolf-Verein. Es wird nach eingehender Beratung während der Jahreshauptversammlung Anfang Juli 1846 befürwortet. Für den Kirchenbau in Seckmauern bewilligt der Gustav-Adolf-Verein 1.000 Gulden. Ein Jahr später sind es dann noch einmal 300 Gulden. Die Gelder fließen direkt in den Lokalkirchenfond und werden dort gesammelt.
Dass Seckmauern überhaupt in das Förderprogramm des Vereins aufgenommen wurde, ist wohl ganz besonders dem Einsatz von Dr. Zimmermann und natürlich auch Pfarrer Böhler zu verdanken. Denn schließlich befand sich die Gemeinde ja nicht in einer Diaspora-Situation. Die Bevölkerung des Kreises Neustadt war ganz überwiegend evangelisch. Zimmermann war als Superintendent, also als Vorgesetzter der Pfarrer, selbst häufig in Seckmauern und konnte sich von der Situation vor Ort ein Bild machen (Ergänzung: Auch im Hinblick auf das Abwerben der Katholiken, insbesondere, wenn evangelische Dienstmädchen bei katholischen Bauern arbeiten müssen; im Archiv ist solch ein Fall dokumentiert; dabei sind sowohl Dr. Zimmermann, Pfarrer Böhler und eine junge Magd, Cousine der Seherin der Marienerscheinung beteiligt). Mit seiner Überzeugungskraft konnte er seine Kollegen im Gremium des Vereins gewinnen. Und wie er die Aufnahme begründete, lässt sich aus einer der vielen Veröffentlichungen des Gustav-Adolf-Vereins entnehmen. Es handelt sich dabei um Hefte, die einzelne Projekte des Vereins der interessierten Öffentlichkeit vorstellte. Zimmermann war es immer ein Anliegen, die Geldgeber und die notleidende Gemeinde zusammen zu bringen, also über die Not zu berichten, aber auch über die Erfolge des Vereins. Und manchmal fügte er auch Zeichnungen ein, um das Geschriebene anschaulich zu machen. So verdanken wir dieser Veröffentlichung auch eine - gewiss tendenziöse - Darstellung der alte Margarethenkirche. Dazu heißt es in einem 1857 herausgegebenen Buch (ist im Archiv der Kirchengemeinde): „Hier möge denn zugleich noch ein Jammerbild stehen, die Kirche zu Seckmauern im hessischen Odenwalde. Zwar liegt Seckmauern in einem großentheils evangelischen Lande, und nur bei der Armuth der Gemeinde konnte die Kirche in einen solchen Zustand gerathen. Die Gemeinde gehört aber in den Wirkungskreis des Vereins, denn sie gränzt an die katholischen Mainlande. Nein, wie groß und vielfach die Noth, war nicht bekannt, bis durch Gottes Gnade.“
Aber bis genügend Geld gesammelt war, dauerte es seine Zeit. Immerhin musste man für einen Kirchenneubau etwa 20.000 bis 25.000 Gulden veranschlagen. Und da ein schneller Baufortschritt nicht erkennbar war, die Gemeinde hatte ja noch nicht einmal einen geeigneten Bauplatz, stockte der Geldmittelzufluss. In dieser Situation wechselte Pfarrer Böhler nach Bad König. Wieder war man an einem „toten Punkt“ angelangt.
Die Marienerscheinung
Es ist der 18. März 1859, abends um 6 Uhr. Eva Maria Greim, 19 Jahre alt und evangelisch, ist auf dem Weg zur Bäckerin. Dort will sie wieder etwas stricken. Die Bäckerin Barbara Hillerich, katholisch, ist Witwe. Ihr Mann ist vor Jahren schon gestorben. Mit ihren Kindern bewohnt sie das so genannte Koch´sche Haus gegenüber der alten Kirche. Sie freut sich auf Eva Maria. Ein wenig Unterhaltung ist schön, zumal sie das Rheuma plagt und sie oft im Bett liegen muss. Unterhaltung lenkt von den Schmerzen ab. Eva Maria hat ihr Strickzeug vergessen, aber was macht das schon. „Du kannst doch da sein“, sagt die Bäckerin. Es geht schon auf neun Uhr zu und es wird dunkel. Eva Maria geht noch einmal ans Fenster, geht schnell an das andere, stößt es auf und ruft: Herr Jesus! Bäckerin, kommt her, da steht ja die Mutter Gottes.“
Die „Marienerscheinung“ kann man als Spinnerei abtun, aber sie hatte Folgen: Vermutlich „verdanken“ wir ihr den Bau der evangelischen Kirche an genau dieser Stelle und den Bau einer katholischen Kirche dort, wo Maria erschienen sein soll.
Vielleicht befürchteten der Pfarrer und seine Gemeinde ein „deutsches Lourdes“ (Marienerscheinung in Lourdes, 1858). Es überrascht schon, dass kurz nach der Marienerscheinung das Wohnhaus der Familie Koch (von dort wurde die Erscheinung beobachtet) gekauft, anschließend abgetragen und auf diesem Gelände mit dem Kirchenbau begonnen wurde.
Der Grundstein zur Kirche wird am 11. Juli 1861 gelegt. Bis dahin werden die noch stehenden Mauerreste des Wohnhauses abgetragen, der Flutgraben verlegt und der Bauplatz eingeebnet. In der Chronik heißt es nur, dass ein der alten Kirche gegenüberliegender Garten zu 400 Gulden als Bauplatz der neuen Kirche angekauft wurde. Die Festpredigt anlässlich der Grundsteinlegung hielt Dr. Karl Zimmermann: „Dies ist der Tag, den mir der Herr gemacht. Lasset uns freuen und fröhlich darinnen sein.“
Noch im Herbst des gleichen Jahres wurde die alte Kirche abgebrochen. Nur der Turm blieb zum Teil noch stehen; vermutlich sollte er als Glockenturm so lange genutzt werden, bis die neue Kirche fertig war.
Wieder stockte das Bauvorhaben. Die Oberbaudirektion befand, dass das vorhandene Geld – es waren jetzt etwas 13.000 Gulden zusammen gekommen – für den Kirchenneubau nicht ausreichen würde. Dessen Kosten wurden nämlich auf 21.000 Gulden veranschlagt. Für die Behörde gab es daher nur zwei Möglichkeiten: Entweder weiter Geld sammeln oder die Kirche kleiner bauen, vielleicht auch den Turm weglassen. Wieder schaltete sich Superintendent Dr. Karl Zimmermann ein:
1. Eine Gustav-Adolf-Kirche ohne Turm gibt es nicht.
2. Mit der vorhandenen Summe könnte man wenigstens die Kirche bauen und decken. Dann würde man einen Baufortschritt sehen und dann würden auch wieder vermehrt Spendengelder fließen.
3. Außerdem wäre die derzeitige Situation sehr ärgerlich: Es sähe so aus, als ob man bauen wolle, aber nicht könne. Schließlich läge das Material seit zwei Jahren auf dem Bauplatz und nichts würde sich tun.
Sein Einsatz zahlte sich aus. Der Kirchenbau wurde wieder aufgenommen und 1865 abgeschlossen.
Das Gotteshaus wurde am 8. November 1865 feierlich eingeweiht. Für Seckmauern war es ein bedeutendes Ereignis. An den Ortseingängen waren Rundbögen mit Fichtengrün aufgebaut worden, man hisste hessische Fahnen und schmückte die Häuser mit Fichtengrün. Um zehn Uhr begannen die Feierlichkeiten. Der ehemalige Pfarrer in Seckmauern und damalige Dekan Christian Albrecht Weiß hielt am Schulhaus, wo seit dem Abriss der alten Kirche die Gottesdienste gefeiert wurden, eine kurze Rede. Dann marschierte der Festzug zur Gustav-Adolf-Kirche. Vor dem Eingang hielt Kreisbaumeister Wilhelm Kraus, der die Pläne erstellte und das Bauvorhaben überwachte, eine kurze Ansprache. Er machte deutlich, dass die Seckmäurer bei ihrem Bau sehr viel Glück gehabt hätten. Denn heute würde der Bau der Kirche nicht 21.200 Gulden, sondern mehr als 40.000 Gulden kosten. Dafür hätten die vorhandenen Geldmittel niemals ausgereicht. Jetzt hingegen konnte man auf 18.200 Gulden zurückgreifen, so dass nur noch 3.000 Gulden zur Schuldentilgung fehlten. Der größte Geldgeber war der Gustav-Adolf-Verein (Evangelischer Verein der Gustav-Adolf-Stiftung). Er steuerte 6.000 Gulden bei, also ein gutes Drittel des vorhandenen Kapitals. Damit wird deutlich, dass ohne seinen Einsatz, die Kirche nicht hätte gebaut werden können. Und wenn man vom Gustav-Adolf-Verein spricht, dann darf ein Name nicht fehlen. Ohne die Idee von Dr. Karl Zimmermann, einen Verein zur Unterstützung notleidender Gemeinden zu gründen, ohne seinen Einsatz für Seckmauern (auch andere Gemeinden litten bittere Not, konnten aber nicht in das Förderprogramm aufgenommen werden), hätte es diese Kirche nicht gegeben.
Eine stattliche Summe, nämlich 4.000 Gulden, kam durch Besoldungsverzicht zusammen. Nach dem Weggang von Pfarrer Böhler, wurde die Stelle mit dem Pfarrvikar Seeger besetzt. Für die Dauer von 8 Jahren wurde statt der regulären Pfarrbesoldung das Gehalt eines Vikars weiter gezahlt. Das ersparte Kapital von jährlich 500 Gulden wurde dem lokalen Kirchenbaufond zugeschlagen.
3.000 Gulden wurden vom Breuberger Klosterfond überwiesen und 1.500 Gulden ergaben landesweite Kollekten.
Daraufhin öffnete der Großherzogliche Superintendent Dr. Karl Zimmermann nach einer kurzen Rede die Kirche. Er hielt auch die Einweihungsrede und übergab Altar, Kanzel und Taufstein feierlich ihrer Bestimmung. Pfarrer Seeger hielt daraufhin die Predigt über 1. Mose, Kapitel 28, Verse 10-17: „Wie heilig ist diese Stätte; hier ist nichts anderes, denn Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels“. Erzählt wird in diesem Bibelabschnitt die Geschichte von Jakob, der auf dem Weg nach Mesopotamien war. Es ist dunkel geworden und er beschließt unter freiem Feld zu schlafen. Ein Stein ist sein Ruhekissen. Und er träumt: Da steht eine Leiter, die bis an den Himmel rührt und auf dieser Leiter steigen die Engel auf und ab. Der Herr selbst steht oben auf der Leiter und erneuert die Verheißung an Jakob: „Und siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hin ziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land“. Als Jakob erwacht, spricht er: „Gewiss ist der Herr an diesem Ort, und ich wusste es nicht: Wie heilig ist diese Stätte; hier ist nichts anderes, denn Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels.“
In seiner Predigt betonte Pfarrer Seeger, dass die Himmelsleiter Sinnbild der Gemeinschaft mit Gott sei. Sie wird vom Himmel herabgelassen – das Gegenbild ist der Turmbau zu Babel. Die Spitze dieser Leiter, womit sie die Himmel berühre, sei die Einheit Christi mit dem Vater, der Fuß, womit sie auf der Erde stehe, seine Erniedrigung, das sei Golgatha. Gott sei nicht mehr oben auf der Leiter, sondern herabgestiegen, sei mit und in uns in der Kraft des Wortes und des Sakramentes. Hier soll aber auch der Blick in die Ewigkeit aufgetan werden. Unser Lebenspfad führt oft genug durch Wüsten, hier aber wird Erquickung angeboten, Vorgeschmack auf das, was uns erwarten wird. Aber das Sehen durch die Himmelspforte tut es nicht, sondern das Eingehen durch diese Pforte ist entscheidend: Das Gotteshaus und der Sonntag als „süße Ruhestellen“ wie es Pfarrer Seeger ausdrückt auf dem Weg zu Gott.
Kirchenbau
Die Gustav-Adolf-Kirche ist eine der ersten Kirchen, die nach dem Eisenacher Regulativ erbaut wurden
Dieses Regulativ ist eine Empfehlung, keine Bauvorschrift. Bereits 1852 hatten mehrere preußische Ministerien eine Denkschrift über den Neubau öffentlicher Gebäude und Kirchengebäude gemeinsam verfasst. Man bedauerte darin, dass sich der protestantische Kirchenbau in einer tiefen Krise befände. Die traditionellen Formen seien durch einen Stil ersetzt worden, der die Zweckmäßigkeit, Schlichtheit und Sparsamkeit überbetone. Kurz gesagt: Die Kirchen des frühen 19. Jahrhunderts glichen eher Schulhäuser oder Lehrsälen als Kirchen. In der Eisenacher Kirchenkonferenz, an der fast alle Landeskirchen teilnahmen – ein Novum übrigens – verständigte man sich auf Bauempfehlungen, um ein einheitliches Erscheinungsbild des Protestantismus zu gewährleisten.
Man orientierte sich hierbei besonders am spätantiken Kirchenbau (Basilika). Eine Basilika war in der Antike ein großer weltlicher Bau. In den so genannten Gerichtsbasiliken befand sich an der Stirnseite gegenüber dem Haupteingang eine Nische, in welcher die Statue des herrschenden Kaisers aufgestellt war. Gemäß antiker Auffassung war im Abbild der Abgebildete gegenwärtig, also was hier geschah, geschah in seiner Autorität und Machtfülle. An Stelle des Kaiserbildes trat ab dem 4. Jahrhundert das Christusbild, und zwar Christus als Pantokrator, als Allherrscher (in unserer Kirche jetzt Christus als der Gekreuzigte). Er ist die alleine maßgebliche Autorität, in seinem Namen versammelt sich die Gemeinde.
Die wesentlichen Bestimmungen des Eisenacher Regulativ sind:
1. Die Kirche sollte, wenn möglich geostet sein, das heisst, der Altar sollte im Osten stehen.
2. Im Grundriss sollte die Kirche ein Kreuz darstellen, das bedeutet, der Altarraum sollte deutlich hervortreten.
3. Es sollte der germanische, sprich gotische Stil nachgebildet werden.
4. Die Kirche sollte aus solidem Baumaterial erbaut werden und der Chor überwölbt sein.
5. Der Haupteingang sollte sich gegenüber dem Altar befinden.
6. Und die Kirche sollte unbedingt einen Kirchturm besitzen, also keinen Dachreiter.
7. Bei der Inneneinrichtung ist darauf zu achten, dass der Altarraum um einige Stufen über das Kirchenschiff erhöht sein muss. Dort hat auch nur der Altar seinen Platz. Er muss frei im Raum stehen.
8. Die Kanzel rückt an den Chorbogen, ebenfalls der Taufstein.
9. Die Orgel wird strikt vom Altar getrennt und befindet sich auf der Westempore. Bei der Bestuhlung ist auf einen Abstand zum Altarraum zu achten.
10. Wenn möglich sollte auf Emporen verzichtet werden.
11. Die Sakristei, das war der letzte Punkt, ist als Anbau und nicht als Einbau auszuführen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass gemäß dem Eisenacher Regulativ der Altarraum besonders hervorgehoben wurde. Das ist auch hier der Fall.
Der Altar- oder Chorraum ist um drei Stufen erhöht. Der Altar selbst steht frei im Raum, direkt unter dem Schlussstein des Sterngewölbes. Hervorgehoben wird der Chorraum auch durch die farbigen Kirchenfenster. Abgesehen von der Ausrichtung sind die Vorgaben des Eisenacher Regulativs vollständig erfüllt. Das ist, wenn man so will, ihr Alleinstellungsmerkmal.
(Vergleich mit dem Vortrag von Pfr. Seeger)
Noch ein paar Worte zur kunstgeschichtlichen Einordnung. Man kann hin und wieder lesen, dass diese Kirche im neugotischen Stil errichtet sei. Dem aber widerspricht zum Beispiel der fortlaufende Rundbogenfries an der Außenwand der Kirche, ebenso die Fenster mit Rundbogenabschluss. Das Gotteshaus ist eher ein frühes Beispiel der Neuromanik. Dazu passen aber nicht die gotischen Elemente, wie z.B. das Sternengewölbe im Altarraum oder auch der Kirchturm selbst. Allerdings ist diese Mischung verschiedener Stilelemente aus unterschiedlichen Epochen vergangener vermeintlich glorreicher Zeiten typisch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. So gibt es neben der Neuromanik, Neugotik auch Neurenaissance und Neubarock. Übergreifend fasst man diese Baustile auch unter dem Begriff „Historismus“ zusammen.
Der Rückgriff auf Stilelemente vergangener Zeiten bedeutete in erster Linie eine Abwendung von Rationalismus und Aufklärung. Die Romantik bereitete den Weg: Sie wendet sich von dem als kalt empfundenen Klassizismus ab und entdeckt das (christliche) Mittelalter.
Diese Überlegungen fließen auch in den Kirchenbau ein. Und die Vorstellung, wie Gottesdienst zu sein hat, bestimmt auch den Kirchenbau. So wird im Zeitalter der Aufklärung die Vernunft als maßgebliche Instanz gesehen, der sich auch die Bibel zu stellen hat (Vernunftglaube). Wundergeschichten, Offenbarungen und Mystizismus haben hier keinen Platz. Der Gottesdienst wird, überspitzt formuliert, zur Vorlesung. Im Mittelpunkt steht daher die Kanzel, von der herab dem (ungebildeten) Volk gepredigt wird.
Jetzt aber rückt der Altar in den Mittelpunkt. Er steht sinnbildlich für die Feier des Abendmahls. Gott stärkt uns hier mit Brot und Wein, wie es Dr. Karl Zimmermann ausdrückt. Und zugleich eröffnet sich hier der Himmel (deshalb der Sternenhimmel über dem Altar im Chorraum). Der Altar zugleich auch als Ort der Erniedrigung, der Sternenhimmel als Ort der Erhöhung und beides im besonders hervorgehobenen Altar- oder Chorraum. Es ist durch Vernunft nicht zu erfassen, sondern bleibt ein Mysterium, das geglaubt wird oder nicht. Gottesdienst ist eine Feier und keine Vorlesung.
Kirchengeschichte
Die Betonung des Altars und des Abendmahles ist eng mit dem Neuluthertum verbunden. Dies ist eine Strömung innerhalb des deutschen Protestantismus, die sich zum einen vehement gegen den Rationalismus der vorangegangenen Epoche wendet. Das Neuluthertum richtet sich gegen die Unionsbestrebungen (Vereinigung von Lutheranern und Reformierten) innerhalb der protestantischen Kirche (Beispiel: Baden). In der reformierten Tradition spielt das Abendmahl als Gedächtnismahl eine eher untergeordnete Rolle. In reformierten Kirchen gibt es in der Regel keinen Altar, sondern eben nur einen Tisch, der auch gegebenenfalls weggetragen werden kann. Dagegen wendet sich ein Teil der Neulutheraner. Hier, für unseren Raum, ist insbesondere Wilhelm Löhe zu nennen. Eine von ihm herausgegebene Predigtsammlung findet sich in unserem Kirchenarchiv. Für Löhe gibt es im Gottesdienst zwei Gipfel, die Predigt und das Abendmahl. Der höhere Gipfel aber sei das Abendmahl. Er, der als Diakonissenvater bekannt geworden ist, versucht auch die altlutherische Liturgie wieder zu beleben.
In dieser Tradition steht auch die Abendmahlsfeier, wie sie hier bis in die 70er Jahre geübt wurde. Noch bis in die 20er oder 30er Jahre war es üblich, dass man sich zum Abendmahl anmeldete. Davon zeugen die Kommunikantenlisten, die hier im Archiv aufbewahrt werden und bis in das beginnende 19 Jahrhundert zurückreichen. Damals war es üblich, dass am Abend vor dem Abendmahl eine Beichtandacht oder Beichtgottesdienst gefeiert wurde. Man sollte sich dann zuhause durch Lesen von Bußpsalmen oder durch das Lesen der Passionsgeschichte auf das Abendmahl innerlich vorbereiten. Am Sonntag wurde dann nach dem Gottesdienst das Mahl gefeiert. Dabei ging man familienweise zur Mahlfeier. Auf der linken Seite nahm man die Oblate, ging dann um den Altar herum und trank anschließend aus dem gemeinsamen Kelch. Typisch protestantisch war das Betreten des Altarraums. In einer katholischen Kirche war der Chorraum ja nur für die Priester vorgesehen und vom übrigen Volk mittels Lettner getrennt. Die Feier des Abendmahls ist ein Vorgeschmack auf das große Festmahl im Himmel. Man wandert unter dem Sternenzelt und geht, durch Wein und Brot gestärkt, zurück in den Alltag (siehe auch Predigt Karl Zimmermann). So wird über dem Altar ein Stück Himmel sichtbar.
Die Gustav-Adolf-Kirche soll ein Ort der Erquickung, eine süße Ruhestelle (Pfr. Seeger anlässlich der Einweihung der Kirche), eine Pforte zum Himmel sein, die Leiter, die Himmel und Erde verbindet (Himmelsleiter).